Meerschwein-Epik

Schreib doch mal was

„Schreib doch mal was.”, sagt er, und schiebt sich eine Gabel voll in den Mund.
„Mhm.”
„Ja?”
„Was, ja?”
„Also schreibst du was?”
„Weiß nicht.” Ich betrachte den Gemüseburger auf meinem Teller.
„Mach doch mal!” Seine Stimme klingt ermunternd. „Du erfindest doch ständig neue Wörter, was war das noch letztens?” Er lehnt sich nach hinten und macht nachdenkliche Geräusche.

Ich versuche, die einzelnen Kartoffelfasern in meinem Gemüseburger zu segmentieren und trinke noch einen Schluck Wein, um meinen Blick zu schärfen. Irgendwie bin ich gerührt von dem Zusammenhalt auf meinem Teller, wie sich dort alles mit allem verschlungen hat. Möhren mit Kartoffeln mit Broccoli, Égalité, Fraternité ...
„Hilf mir doch mal, was war das für ein Wort?”
„Hm?”
„Irgendwas mit E... .” Er starrt mich an und ich weiß, dass es ihm jetzt nicht auffallen wird, wenn ich nicht zurück starre.
Ich denke an das Meerschwein von Ringelnatz und frage mich, wie weit es vom Küchenstuhl bis zum Meer ist, wenn man den kürzesten Weg nimmt. Den kürzesten Weg. Das ist auch sowas. Immer schnell schnell, von irgendwo nach irgendwohin, und dazwischen lauter Nicht-Menschen an Nicht-Orten; nicht mehr ganz hier und noch nicht ganz dort. Mir fällt das Wort ein, das L. gestern auf dem Nachhauseweg gesagt hat: „Entschleunigung”, und es fühlt sich verrückt und gut an, und ich stelle mir vor, wie ich vom Stuhl aufstehe und den ersten Schritt in Richtung Meer gehe. Und dann den zweiten.
„Ah, ich komm nicht drauf. Ist auch egal.” Er zerknüllt seine Serviette und ich höre, dass er lächelt.
„Was machst du da?”, fragt er.
Ich schaue auf, und gehe mit Ring- und Zeigefinger einen letzten langsamen Schritt auf dem Tisch entlang. Dann lege ich die Hand flach auf den Tisch:
„Was will das Meerschwein eigentlich am Meer?”
„Wie bitte?”
„Das Meerschwein. Was will es am Meer?”
Er lächelt jetzt nicht mehr.
Ich schaue auf meinen Gemüseburger, als wüsste er die Antwort.
„Das Meerschwein will am Meer sein und mehr Sein.”

„Oh.”, sage ich, und plötzlich kommt mir der Tisch sehr breit vor.
„Und?” sagt er.
„Und was?”
„Schreibst du was?”


(Me)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

detached
This word is haunting me for days now. I think that...
Spinnfäden - 17. Mai, 23:04
The artist in me
Wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich Grossartiges...
Spinnfäden - 17. Mai, 21:45
Schale
Nussschale, du kleine, hölzerne Dein Rand teilt Himmel...
Spinnfäden - 3. Apr, 23:46
Die dunkle Seite
Heute morgen habe ich auf WDR5 ein Feature zum Thema...
Spinnfäden - 3. Apr, 19:11
Ja vielen Dank auch :)...
Ja vielen Dank auch :) Schön dabei zu sein!
Spinnfäden - 27. Dez, 21:25

Links

Suche

 

Status

Online seit 3930 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Mai, 23:05

Credits